Ein Gutes hatte der sog. Antiislamisierungskongreß vergangener Woche: Die Herren Entislamisierer haben nämlich unmißverständlich deutlich gemacht, was jeder halbwegs vernünftige Betrachter bereits seit Langem weiß. Seit 1945 hat sich freilich vieles geändert. Das Land, in dem es einst alles zu „arisieren“ galt, hat jetzt eine erstaunlich vielfältige und multikulturelle Gesellschaft vorzuweisen. Selbst der braune Restbestand holt sich erst mal Döner oder Schawarma vor dem allnächtlichen Klatschgang. In einem Land, in dem einst der häßlichste Antisemitismus der Geschichte zum Vorschein kam, blüht jüdisches Leben allmählich wieder auf (in manchen Germanistikstudiengängen kann man inzwischen sogar Jiddischkurse belegen).
Doch eins ist im euroamerikanischen Kulturkreis beim Alten geblieben: die ethnisch-kulturell-religiös definierte Zielscheibe. Gestern hat man gegen die „Verjudung“ Europas gewittert; heute hetzt man gegen eine erfundene „Islamisierung“ (daß Juden hierbei nicht mehr als Zielscheibe, sondern als politisches Schutzschild, verwendet werden, ist ein weiteres Zeichen gesellschaftlichen Wandels). Die Rechte ist dieselbe geblieben; nur das Feindbild hat sie gegen ein neues ausgetauscht.
Interessant ist hierbei zu bemerken, daß eigentlich nur die Namen ausgetauscht worden sind. Sogar die Stereotypen, sowie die Ängste, die es zu schüren gilt, sind 2008 dieselben wie 1930. Damals galt die gesellschaftlich-politische Ausgrenzung vor allem den sog. Ostjuden (auch „Galizier“ genannt). Die Ostjuden kamen v.a. aus Polen und Rußland, lebten erst in der 1. oder 2. Generation in Deutschland, waren größtenteils arm, und hingen sehr an ihren heimischen Bräuchen und Traditionen. Sie sprachen eher Jiddisch als Deutsch, und blieben – nicht zuletzt wegen der sozialen Ausgrenzung – lieber unter sich. Nach dem heutigen Sprachgebrauch würde man ihnen „mangelnden Integrationswillen“ bescheinigen. Häufig wurden sie den heimischen, assimilierten, eher gutbürgerlichen deutschen Juden gegenübergestellt, die sich ebenfalls von ihnen distanzierten. Eine der ersten großangelegten antisemitischen Maßnahmen nach der sog. „Machtergreifung“ war die Massenabschiebung sämtlicher Ostjuden. Die Ostjuden galten als dreckig, hinterlistig und kriminell, sowie als die Träger fremder Einflüsse. Sie waren, so die gängigen rechten Parolen, an allem schuld, woran man nur schuld sein konnte: Arbeitslosigkeit, Armut, gesellschaftlichen Unruhen, usw.
So hat z.B. ein preußischer Polizeipräsident 1920 geschrieben: „Die Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht nur um lästige, sondern um höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und wohlwollenden Behandlung künftig politisch, wirtschaftlich und gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen[1]“. Ihnen wurde in antisemitischen Postkarten eine „Freifahrkarte nach Jerusalem… hin und nicht wieder zurück“ angeboten[2].
„Die Physiognomie des jüdischen ‚Schmarotzers’, der als dunkelhaariger Mann mit langem Haar und Bart, mit hagerem Gesicht, Schirmmütze und Peies dargestellt wurde, diente zur Visualisierung des unmaskierten ‚wahren’ Juden, der allerdings aufgrund seiner Assimilationsfähigkeit in die Rolle des zivilisierten Westeuropäers schlüpfen könne; doch ‚die äußerliche Erscheinung ändere nichts an der rassischen Andersartigkeit und ihrem parasitären Charakter[3]’.“
Ein Grundzug der Propaganda war also, daß (Ost-)Juden absolut, unnahbar anders seien, so daß eine rationale Auseinandersetzung oder ein friedliches Zusammenleben mit ihnen schlichtweg undenkbar sei. Nur als Gegner könne man sie verstehen.
Der Vergleich zum heutigen Zustand liegt wohl auf der Hand. Nur das Feindbild hat sich geändert. Ostjuden sind kein geeignetes Feindbild mehr, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie größtenteils ermordet worden sind. Der nationalsozialistische Massenmord hat such die Einstellungen im euroamerikanischen Kulturkreis zum Judentum, und deshalb auch zum traditionellen Antisemitismus, grundlegend geändert. Heute werden alte NS-Sprüche wie „Juden raus“ nicht nur allgemein verachtet, sondern auch noch strafrechtlich geahndet (anders aber „Türken raus“ o.ä.). An die Stelle des traditionellen, wie auch des nationalsozialistisch verschärften Antisemitismus ist ein Philosemitismus getreten, der aber in manchen Hinsichten – wie z.B. die häufig unkritische Einstellung zur israelischen Politik – den Juden eher schadet als nützt. An die Stelle der Ostjuden als Gegenstand nationalistischer Hetze – das bestätigt erneut der „Antiislamisierungskongreß“ – sind die Muslime getreten.
Schon am Sprachgebrauch ist das zu erkennen. Nicht umsonst nennt die Rechte das Zusammenleben mit Menschen islamischen Glaubens und nahöstlicher Kultur „Islamisierung“. Damit soll nämlich zum Ausdruck gebracht werden, daß es sich nicht um Menschen wie dich und mich handele, sondern um gefährliche Unterwanderer, vor denen die „abendländisch-christliche“ Kultur hermetisch abzuriegeln sei. Daß die heutigen Inhaber der Ostjudenrolle sich nicht nur sprachlich, kulturell und religiös, sondern auch noch häufig aufgrund der Hautfarbe, von „uns“ unterscheiden, ist hierbei ein kleiner Pluspunkt (die Herstellungskosten gelber Halbmonde o.ä. kann man sich nämlich sparen).
Wenden wir uns den heutigen Propagandisten einer vermeintlichen „Islamisierung“ zu, sehen wir einen Umgang mit dem „Gegnervolk“, der dem damaligen politischen Umgang mit den (Ost-)Juden verblüffend ähnlich sieht. Der Bau von Moscheen – wie einst der Bau von Synagogen – wird als „Drohung“ bezeichnet, der man sich entgegensetzen müsse. Als typische Beispiele der islamischen Ausländer, die die deutsche Gesellschaft bevölkern, und die die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesrepublik „[u]m[zu]kippen“ drohen, führt ein sog. Minority Report über die „Islamisierung“ an:
„Muslime, die ihren deutschen Hausfrauen drohen, ihnen ‚die Hand abzuhacken’, wenn sie einen anderen Mann auch nur anschauen (...). Oder analphabetische Patriarchen, die ihre Familienangelegenheiten mitten in Berlin nach dem Hausbrauch afghanischer Bergvölker regeln. Die Symptome (!) sind so unterschiedlich wie auch die Ansichten darüber, was schon eine Parallelgesellschaft ist und was noch nicht.“[4]
Derselbe Report betont eine vermeintliche muslimische „Geheimniskrämerei“, und fragt rhetorisch, „Was denken diese Leute wirklich von uns, wenn sie unter sich sind?“[5] „Hoffentlich sind wir diesen Verbreiter von Haß und Gewalt bald los! Doch wenn Staat beziehungsweise Land schon einmal Härte zeigen, folgt gleich die Beschwichtigung, er sei ja nur eine Ausnahme, alle anderen seien doch lieb und nett. Sind sie das wirklich? Was wissen wir denn, was in den Moscheen gesprochen und verkündigt wird?“ (Hervorhebung von mir) heißt es in einem von demselben Report zitierten Leserbrief im Berliner Morgenpost. Einzelheiten zur angedeuteten „muslimischen Weltverschwörung“ werden wir sicherlich demnächst in den Protokollen der Weisen von Arabien erfahren.
Gewalt, Kriminalität, Verschwörungen und Frauenschändung gehören also schon zum neuen Feindbild (wie auch in etwas anderer Form zur alten). Es bleibt dann nur noch das unnahbare Anderssein übrig. Doch auch das stellt uns der Verfasser des Report gern zur Verfügung. „Hinzu kommt,“ zitiert der Report einen Artikel des rechtsradikalen Blatts Junge Freiheit, „daß die Zuwanderung statt aus modernen und bildungsorientierten aus archaischen Gesellschaften erfolgt, und zwar aus deren Unterschichten. So weisen die migrantischen Jugendlichen in Kreuzberg einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten von 86 auf, ein alarmierendes Unterschichtenindiz, denn erst ab 105 beginnt die höhere Gesellschaftsfähigkeit[6].“ Ein Dialog sei also undenkbar, weil die „gesellschaftsunfähigen“ Muslime rein geistig nicht in der Lage seien, einen zu führen[7].
In beiden Fällen werden also völkisch, sprachlich, religiös und kulturell definierte Feindbilder heraufbeschworen, die Europa angeblich unterwandern und erobern werden. Wie die Ostjuden wegen ihrer jiddisch- und hebräischsprachigen Gottesdienste werden die Muslime wegen der Führung von Gottesdiensten in ihren jeweiligen Muttersprachen verdächtigt. Die Gebetsstätten selbst werden als geheimnisvolle Verschwörungsstandorte beschrieben, in denen „die“ alles mögliche über „uns“ sagen, ohne daß „wir“ es mitbekommen.
Der im Titel dieses Aufsatzes verwendete Begriff des „neuen Antisemitismus“ ist freilich ein unpräziser. Zwar sind viele Muslime Araber, und damit auch semitischer Herkunft; dies trifft jedoch nicht z.B. auf Türken und Afghanen zu. Vielmehr soll mit dem Begriff zweierlei verdeutlicht werden. Zum einen soll dem als Schimpfwort für (auch jüdische) Israelkritiker verwendeten „neuen Antisemitismus“ eine weniger realtitätsfremde Bedeutung entgegengesetzt werden. Zum anderen soll durch die Verwendung des Antisemitismusbegriffs betont werden, daß beide Feindbilder dieselbe gesellschaftliche Funktion ausüben. So wie der Antisemitismus als „Sozialismus der dummen Kerle“ die Angst und Wut der weniger begüterten Schichten auf eine Zielscheibe lenkte, die eine Fundamentalkritik am Kapitalismus verhinderte, lenkt der heutige Islamisierungswahn von den ökonomisch-politischen Prozessen ab, denen man Massenarbeitslosigkeit, sozialen Abstieg und Hoffnungslosigkeit wirklich zu verdanken hat.
[1] Zit. n. http://www.ruhr-uni-bochum.de/bsz/516/516lager.htm
[2] Zit. n. Judith Kessler, Ausstellung: „Gruß aus Bad Kissingen“: Eine Ausstellung im Kommunikationsmuseum befaßt sich mit judenfeindlichen Postkarten, http://www.berlin-judentum.de/news/2004/01/postkarten.htm
[3] Zit. n. Diana Carmen Albu, „Der ewige Jude“ – Geschichte und Hintergründe eines NS-Propagandafilmes, http://david.juden.at/kulturzeitschrift/50-54/Main%20frame_Artikel54_Albu.htm
[4] Minority Report, S. 20, erhältlich unter: http://www.islamisierung.info/file/Minority_Report.pdf
[5] Ebenda, S. 22
[6] Ebenda, S. 30, Hervorhebung im zit. Werk.
[7] An diesem Zitat erkennt man auch einen der wichtigsten Unterschiede zwischen dem traditionellen europäischen Antisemitismus und dem heutigen Islamisierungswahn. Den (weißen) europäischen Juden bescheinigte man nämlich meist eine überdurchschnittliche Intelligenz und eine vermeintlich damit einhergehende „Gerissenheit“, die einen ehrlichen Dialog unmöglich machte. Den größtenteils nichtweißen Muslimen hingegen spricht man die Dialogfähigkeit wegen ihrer vermeintlich unterdurchschnittlichen Intelligenz ab.
Post Scriptum: Seit dem gescheiterten Antiislamisierungskongreß werden von rechter Seite die Antifa- und sonstigen Gegendemonstranten als "Nazis" und "Faschisten" beschimpft. Das ist an und für sich nicht überraschend. Aber es drängt sich da eine Frage auf: Was wäre eigentlich gewesen, wenn den Gesinnungsgenossen der heutigen Herren Entislamisierer 1932 eine ähnliche Begrüßung begegnet wäre wie letzte Woche in Köln?